Forschungsprojekt

20 Jul 2016

Die Wahrnehmung von Invarianten − eine Studie zur Bildverständlichkeit in der Leichten Sprache

In der Leichten Sprache werden die Texte häufig durch Abbildungen mit dem Ziel unterstützt, dem Leser auf den ersten Blick verständlich zu machen, worum es im Text geht. Deshalb wurden Bilder zu verschiedenen Themen entwickelt und in einem Katalog zusammengefasst (Leichte Sprache – Die Bilder 2013). Diese Bilder sind nach einem einheitlichen Abbildungskonzept erstellt. Sie sind in ihrer Zeichnung klar und vom Informationsgrad reduziert. Dennoch passen die Bilder häufig nicht zum Text, d. h. es bilden sich Text-Bild-Scheren, weil das Bild etwas anderes zeigt als der Text aussagt. In dieser Konstellation führt die Abbildung eher zu Verwirrung als zur Verständlichkeit.

Dieses Phänomen interessiert und soll anhand dieser Studie analysiert werden. Die Untersuchung stützt sich auf das natürliche Bildverstehen, welches mit der ökologischen Wahrnehmungspsychologie nach James Gibson einhergeht. Jeder Mensch nimmt in seiner Umwelt Merkmale wahr, die unveränderlich sind, die sich nicht durch den Ort der Betrachtung oder die Beleuchtung oder andere Faktoren ändern. Nach Gibson werden diese nicht-veränderlichen Merkmale Invarianten genannt (Gibson 1982).

Das Hauptkennzeichen dieser ökologischen Psychologie besteht erstens in der Betonung der Reichhaltigkeit der verfügbaren Umwelt-Information und zweitens in der engen Koppelung zwischen Wahrnehmen und Handeln (Guski 1996: 42 ff.). Das heißt, dass das Erkennen eines Bildes vom Vorwissen des Betrachters bestimmt wird. Dabei wird auf zwei Komponenten des Wissens des Betrachters zugegriffen. Einerseits ist Vorwissen über die Abbildungskonventionen erforderlich, andererseits wird Vorwissen über den Realitätsausschnitt, auf den die Abbildung verweist, benötigt. Dieses Bildverstehen basiert auf Schemata, die wir aus unserer Erfahrung mit der Realität erworben und vielfach bestätigt haben. Sie gehören zu unseren Wissensstrukturen, werden durch das Bild aktiviert und fangen die grafischen Informationen mühelos ein. (Weidenmann 1994: 45f.)

Bei Illustrationen sollte also darauf geachtet werden, wie der Mensch seine Umwelt wahrnimmt, sie selbst erlebt. Je besser die Invarianten in einer Abbildung oder Illustration herausgearbeitet sind, desto einfacher ist die Informationsaufnahme. Das ist gerade für den Einsatz von Bildern in der Leichten Sprache von besonderer Bedeutung.

Daraus ergibt sich die Forschungsfrage: Kann die Bildverständlichkeit unter Berücksichtigung von Invarianten bei der Bildgestaltung für das Konzept der Leichten Sprache verbessert werden? Dafür wurden folgende Hypothesen aufgestellt: Je besser die Invarianten eines Bildes zu erkennen sind, umso einfacher ist die Bildverständlichkeit!

  1. Die Bildgestaltung wird auf die Invarianten reduziert und erhöht dadurch das Bildverstehen.
  2. Sind die Invarianten gut, ist die Abbildung auch als Strichzeichnung verständlich.
  3. Die Farbe einer Abbildung ist nicht invariant. Sie beeinflusst die Bildverständlichkeit nicht.

Anhand des Bildlexikons für Leichte Sprache wurden Bilder zum Thema „Ablauf eines Arbeitsweges“ ausgewählt. Im nächsten Schritt wurde überlegt, was für jedes Bild unveränderliche Merkmale sein könnten. Diese wurden unter dem Punkt „Invarianten“ gesammelt, verglichen und berichtigt. Im Ergebnis entstanden neue Testbilder. Fehlende Bilder wurden gänzlich neu erstellt.

Invarianten der Bilder

Bilder Leichte Sprache Invarianten Ergebnis
Fahrzeuge/mit Fahrzeug fahren
Bus Straße, Fahrer, Linie, Fahrgäste, geschlossene Türen
Straßenbahn Fahrer, Fahrgäste, Linie, Schiene + Oberleitung parallel
Orientierung
Haltestelle Fußweg, Straße, Fahrplan, Linien, Haltestellenschild, Wartende
Sicherheit im Straßenverkehr
[keine Bilder in der Leichten Sprache]Ampel rot Ampel rot – warten auf Fußweg, Autos fahren, rot
[keine Bilder in der Leichten Sprache]Ampel grün Ampel grün – Straße überqueren, Autos stehen, grün
(Fort-)Bewegung im Straßenverkehr
zu Fuß Untergrund, z. B. Fußweg
rausgehen Landschaft, Straße o. a.
[keine Bilder in der Leichten Sprache]einsteigen typische Beinhaltung, Fahrzeug, in unserem Fall noch Haltestelle, Fußweg/Straße
[keine Bilder in der Leichten Sprache]aussteigen typische Beinhaltung, Fahrzeug, in unserem Fall noch Haltestelle, Fußweg/Straße
Als typisches Merkmal für den Arbeitsweg wurde die Aktentasche in die Bilder eingefügt.

Für den Test wurden zu jeder Bezeichnung Bilderserien angefertigt, wie hier das Beispiel „Bus“ zeigt.

Abb. aus Leichter Sprache Abb. aus Leichter Sprache mit eingearbeiteten Invarianten
Abb. aus Leichter Sprache in s/w Strichzeichnung der Bildvariante 2

Die Abbildungen „Bild 3“ und „Bild 4“ wurden angelegt, weil, entsprechend der Arbeitsthesen, die Abbildungen auch als Schwarz-Weiß- und Strichzeichnung verständlich sein sollen, wenn die Invarianten gut sind. Außerdem soll gezeigt werden, dass in diesem Zusammenhang die Farbigkeit einer Abbildung die Bildverständlichkeit nicht beeinflusst. Die Leichte Sprache stellt außerdem die Anforderung, dass Bilder auch als Schwarz-Weiß-Abbildungen (z.B. auf kopiertem Papier) funktionieren müssen wie farbige Abbildungen (Netzwerk Leichte Sprache).

Zum Schluss wurden den Bildern (entsprechend ihrer Aussage bzw. bezogen auf den Inhalt) Begriffe bzw. Wortgruppen zugeordnet.

losgehen / rausgehen
gehen / zu Fuß
Haltestelle, warten
einsteigen
Bus / Bus fahren / mit dem Bus fahren
Straßenbahn /Straßenbahn fahren /mit der Straßenbahn fahren
aussteigen
Ampel, rot, warten
Ampel, grün, gehen

In einem Usability-Test wurden die Leichten Bilder sowie die eigenen, neuen Bilder von Menschen mit Lernschwierigkeiten evaluiert. Dafür wurde die Methode des „Lauten Denken“ gewählt. Bei diesem Verfahren werden die Probanden aufgefordert, während des Tests eigene Gedanken laut zu verbalisieren und spontan zu kommentieren, was ihnen bei der Bildbetrachtung durch den Kopf geht oder wo sie Probleme haben. Dadurch können hilfreiche Informationen während des Rezeptionsprozesses gewonnen werden, die sich qualitativ auswerten lassen und es wird vermieden, den Testpersonen bestimmte Ergebnisse zu suggerieren. Die Methode des Lauten Denken ist gut zur Bildbeschreibung geeignet und liefert valide, nicht verzerrte Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis. Die Kommentare wurden dokumentiert. Zusätzlich wurde ein Protokoll geführt, um Besonderheiten/Auffälligkeiten während des Experiments zu aufzuzeichnen.

In der Auswertung wurde anhand der Aufzeichnungen analysiert, ob in den Beschreibungen der Probanden bestimmte Wörter oder Wortgruppen ausgesprochen wurden, welche mit den festgelegten Wortmarken für die Testbilder übereinstimmten.

Im Ergebnis konnte festgestellt werden, dass die Darstellungsart von der Zielgruppe sehr gut angenommen wird und Invarianten für das Bildverständnis relevant sind. Invarianten machen die Bildinformation konkret. Gute Invarianten tragen unabhängig von der Farbigkeit zur Verständlichkeit eines Bildes bei. Komplexe Sachverhalte müssen wirklich auf das Wesentliche reduziert werden, denn nicht alle Invarianten sind für die Bildverständlichkeit sinnvoll. Die Bildbeschreibung darf nicht abstrakt sein, sondern muss den Bildinhalt wiederspiegeln, der durchaus tätigkeitsorientiert sein kann.

Quellen:

Gibson, James (1982): Wahrnehmung und Umwelt – der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München: Urban & Schwarzenberg.

Guski, Rainer (1996): Wahrnehmen – ein Lehrbuch; Stuttgart: Kohlhammer. URL: http://tocs.ulb.tu-darmstadt.de/49336002.pdf – geprüft am 16.2.2017

Leichte Sprache – Die Bilder (2013): Marburg: Lebenshilfe-Verlag.

Netzwerk Leichte Sprache (2013): Die Regeln für Leichte Sprache. Lebenshilfe Bremen e.V. URL: http://leichtesprache.org/index.php/startseite/leichte-sprache/die-regeln – geprüft am 04.01.2017.

Weidenmann, Bernd (1994): Lernen mit Bildmedien. Weinheim: Verlagsgruppe Beltz.

Projektdaten:

Lehrveranstaltung: Usability Testing
Mitwirkende: Laura Boeck, Cordula Wünsche
Zeitraum: Wintersemester 2014/ 2015